In Syrien wird der Geburtstag nicht gefeiert. Das genaue Datum spielt nur aus praktischen Gründen eine Rolle.
Ich bin im Jahr 1994 zur Welt gekommen. Dass ich das weiß, ist für einen in Syrien geborenen Menschen nicht selbstverständlich. Da ich schon länger nicht dort lebe, weiß ich nicht, ob sich das im Laufe der Jahre verändert hat. Aber ich glaube, dass in Syrien heute nur die wenigsten wissen, wann genau sie Geburtstag haben und er wird – u. a. deswegen – nicht gefeiert.
Das Geburtsdatum wird nicht systematisch erfasst und spielt eigentlich erstmals bei der Einschulung eine Rolle. Im September fängt für alle Sechsjährigen die Schule an. Die meisten Eltern schauen, dass ihre Kinder in die Schule gehen, sobald es von der psychischen und physischen Entwicklung her möglich erscheint. Dieser Einschätzung nach wählen die Eltern das Geburtsjahr in der Anmeldung aus. Viele entscheiden sich dabei für einen Tag im Jänner – besonders bei Buben. Denn: Mit dem 18. Geburtstag müssen sie den Militärdienst beginnen und die ersten Wochen sind die härtesten. Die kühlen Temperaturen machen das Ganze im Jänner erträglicher als im Sommer.
Dass ich 1994 das Licht der Welt erblickte, weiß ich eigentlich nur, weil meine Familie in diesem Jahr mit dem Hausbau fertig geworden ist. Ich war im Krabbelalter, als meine Mutter meinen Namen auf eine Wand geschrieben hat. In welchen Jahren meine acht Geschwister zur Welt gekommen sind, weiß sie nur ungefähr. Bei meiner Einschulung ließen meine Eltern jedenfalls den 10. Jänner als Geburtsdatum eintragen.
Für mich ist mein Geburtstag aber der 10. August. Denn: An jenem Tag im Jahr 2015 bin ich in Österreich angekommen und habe hier mein neues Leben begonnen.
Eine von vielen Neuerungen dabei ist das Feiern von Geburtstagen. Meinen eigenen und die von anderen! Ich schätze alle Geschenke, aber am meisten freue ich mich darüber, dass andere sich die Mühe machen, sich „meinen Tag“ in ihrem Kalender einzutragen und mir zu gratulieren. Und ich versuche, es ihnen gleichzutun, denn ich möchte allen, die mir wichtig sind im Leben, auch diese Freude und Aufmerksamkeit schenken.
Ahmad Ibesh, 29, kommt aus Aleppo in Syrien. Als er in die Armee sollte, floh er in die Türkei und kam 2015 nach Österreich. Seither lebt er u. a. als Schneider von seinem Label „Herzgenäht“ (vgl. Rubrik Lokalaugenschein, Südwind-Magazin 7-8/2020) in Kärnten.
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